Vortragsreihe Winter 22-23, “Disziplinen in Bewegung”
Veranstalter: Fakultätszentrum für transdisziplinäre historisch-kulturwissenschaftliche Studien
(in Zusammenarbeit mit dem Dekanat der Historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät, Senior Scientist Digital Humanities)
Veranstaltungsleitung und Moderation: Marko Demantowsky (Arbeitsbereich Public History am Fakultätszentrum)
Veranstaltungsassistenz: Barbara Pavlek-Löbl, Carina Siegl
Grusswort: Univ.-Prof. Dr. Tara Andrews / Mag. Dr. Thomas J.J. Wallnig, PD
Die Vortragsreihe wird aufgezeichnet, und im Anschluss an jede Veranstaltung werden Vortrag, Kommentar und Diskussion als redigiertes Video auf dem ⇒ YouTube-Kanal der Wiener Public History öffentlich zur Verfügung gestellt.

I. Perspektive Empirische Kulturwissenschaft / Europäische Ethnologie
„Alles so schön bunt hier“ – Forschungsdatenmanagement als epistemologische Praxis in der Empirischen Kulturwissenschaft
Univ.-Prof.in Dr. Gertraud Koch (Hamburg)
Kommentar: Dr.in Anna Weichselbraun (Wien/Los Angeles)
Wann? Donnerstag, 20. Oktober 2022, 18.30 Uhr
Wo? Oskar-Morgenstern-Platz 1, HS 13
Zur Sache: Digitale Datenwelten haben die schöne, bunte Bilderwelten des Fernsehens weitgehend ersetzt, die Nina Hagen Ende der 1970er Jahre in ihrem Song „Ich glotz TV“ punkig-provokativ-kulturkritisch besang, und wohl auch noch etwas bunter und komplexer gemacht. Forschungsdaten in der empirisch-kulturanalytischen Forschung umfassen die große, bunte Bandbreite an Modalitäten (Text, Bild, Audio, Video, Objekte, born-digital Daten, Digitalisate) aus gegenwärtigen und historischen Quellen als Grundlage für dichte, kulturvergleichende Beschreibungen populärer/popularer Kultur.
Das Management der digitalen Forschungsdaten (FDM) reicht in nahezu alle forschungspraktischen Arbeiten der empirischen Kulturanalyse hinein und setzt hier neue Anforderungen im Umgang mit den Daten, was wiederum neue Kenntnisse und Arbeitspraktiken erfordert. Das FDM kann in diesem Sinne als prototypisch für die digitale Transformation/Re-mediation in der Empirischen Kulturwissenschaft (EKW) angesehen werden. In Verbindung mit gesellschaftlich präferierten Daten-Paradigmen des Open Access und der FAIR Prinzipien verändern sich die Rahmenbedingungen für die Wissensproduktion in der empirischen Kulturanalyse damit nachhaltig.
Anhand des Lebenszyklus der Forschungsdaten im empirisch-kulturanalytischen Forschungsprozess, quasi in einem biographischen Zugang, beschreibt der Vortrag von der Generierung der Daten bis zur Archivierung und möglicherweise Löschung den aktuellen Stand des FDM. Der Vortrag reflektiert die damit einhergehenden Neuerungen und spezifischen Anforderungen. Abschließend werden Szenarien für mögliche Zukünfte des Umgangs mit digitalen Forschungsdaten in der empirischen Kulturforschung entwickelt.
Zur Person: Gertraud Koch, ist seit 2013 Professorin für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Hamburg mit einem Schwerpunkt in der gegenwartsbezogenen Kulturanalyse, davor hatte sie seit 2003 den Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft und Wissensanthropologie an der privaten Zepplin Universität in Friedrichshafen inne. 1999 hat sie an der Humboldt Universität zu Berlin im Fach Europäische Ethnologie promoviert. Ihre Dissertation widmet sich der Kulturalität der Technikgenese am Beispiel der Künstlichen Intelligenz Forschung in Deutschland. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Ungleichheit, urbane und regionale Diversität, Arbeitskulturen, Digitalität und Kultur, Immaterielles Kulturerbe sowie Methoden der Kulturanalyse. Sie ist Stellvertretende Vorsitzende im Expertenkommittee „Immaterielles Kulturerbe“ der Deutschen UNESCO Kommission und Mitherausgeberin der soeben bei Routledge gegründeten Buchreihe „Participatory Memory Practices. Digital Media, Design, Futures”
II. Perspektive Germanistik / Buchwissenschaft
Singularität und Modellierung. Zur computationellen Methodik der Germanistik
Univ.-Prof. Dr. Gerhard Lauer (Mainz)
Kommentar: Univ.-Prof. Dr. Stephan Müller (Wien)
Wann? Donnerstag, 24. November 2022, 18.30 Uhr
Wo? Oskar-Morgenstern-Platz 1, HS 11
Zur Sache: Es gehört zu den Gemeinplätzen des Fachs Germanistik, dass sich Literatur einer quantitativen Beschreibung grundsätzlich entziehe. Das Ästhetische sei nur qualitativ erfahrbar und könne nur in hermeneutischen Annäherungen erfasst werden. Mein Vortrag stellt diesen Gemeinplatz der Singularität in Frage und zeigt, wie eine auch quantitative Analyse der Literatur und Bücher möglich ist. Im Mittelpunkt steht dabei die Methodik der Modellierung, die Formalisierung von historischen Fragestellungen für Zwecke ihrer computationellen Bearbeitung.
Zur Person: Gerhard Lauer ist Gutenberg-Professor für Buchwissenschaft an der Universität Mainz. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die computationelle Buchgeschichte und die experimentelle Leseforschung.
Zuletzt erschienen: „Lesen im digitalen Zeitalter“ (Darmstadt: wbg 2020).
III. Perspektive Kunstgeschichte
Informationen vernetzen – Erkenntnis gewinnen. Welche Voraussetzungen braucht die Digitale Kunstgeschichte?
Dr.in Gudrun Knaus (Frankfurt a.M.)
Kommentar: Mag. Kathrin Pokorny-Nagel MSc (Wien)
Grußwort: Univ.-Prof. Dr. Raphael Rosenberg (Wien)
Wann? Donnerstag, 15. Dezember 2022, 18.30 Uhr
Wo? Kolingasse 14-16, Lehrveranstaltungsraum 5
Zur Sache: Beinahe jede europäische Sammlung von Objekten, die für das kulturelle Gedächtnis als relevant erachtet werden, wird digitalisiert, beschrieben und im Internet präsentiert. An vielen Hochschulen entwickeln sich Forschungsschwerpunkte digitaler Geisteswissenschaften, bei denen ebenfalls Daten über kulturelle Objekte erhoben werden. Doch solche Daten werden für die digitale Kunstgeschichte erst dann wertvoll, wenn sie präzise sind, logisch organisiert werden, leicht gefunden werden können sowie rechtlich und technisch nachnutzbar sind. Erst wenn Informationen aus verschiedenen Quellen maschinell zusammengeführt werden und damit inhaltliche Beziehungen zwischen Kunstgegenständen, beteiligten Akteuren, Orten oder Ereignissen zutage treten, können neue Fragestellungen entwickelt werden, welche die Chancen digitaler Daten tatsächlich nutzen. Je weiter sich die Möglichkeiten der automatischen Vernetzung von Informationen entwickeln, desto wichtiger werden interdisziplinäre Kompetenzen der Personen, welche die Informationen an der Quelle erschließen. Sie müssen lernen, wie man wissenschaftliche Sorgfalt auch im digitalen Raum beibehält und Informationen so zur Verfügung stellt, dass sie auch von Dritten weiterverarbeitet werden können. Der Vortrag benennt wesentliche Faktoren für die Qualität und Nachnutzbarkeit digitaler Daten. Sowohl aus der Perspektive der einzelnen Sammlung als auch aus dem Blickwinkel von Datenaggregatoren sowie Nutzer:innen von Daten wird aufgezeigt, welche Herausforderungen im aktuellen Wandel der Geisteswissenschaften noch zu bewältigen sind, damit tatsächlich neue Erkenntnisse für die digitale Kunstgeschichte möglich sind. Dazu zählen auch ganz praktische Belange der Projektorganisation sowie finanzielle und organisatorische Rahmenbedingungen für die langfristige Verfügbarkeit von Daten.
Zur Person: Dr. Gudrun Knaus hat am Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg das Graphikportal mit entwickelt und ist für die langfristige Pflege des Portals verantwortlich. Zu diesem Zweck koordiniert sie die Entwicklung gemeinsamer Dokumentationsstandards im Rahmen des Arbeitskreises Graphik vernetzt. Dazu gehört auch die Weiterentwicklung des internationalen Standards LIDO für die Erfassung und Publikation von Metadaten zu kulturellen Objekten. Zuvor war sie Projektkoordinatorin für die Digitalisierung der Illustrationen zu Goethes Werken am Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Als Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds im Graduiertenkolleg „Kunst als Kulturtransfer seit der Renaissance” wurde sie 2010 mit einer Arbeit über die Kupferstiche Marcantonio Raimondis als Vermittler der Kunst Raphaels promoviert. Davor war sie einige Jahre im Kunsthandel tätig (Galerie Thomas Schulte – Berlin und Galerie Kornfeld – Bern). Sie studierte Kunstgeschichte, Betriebswirtschaft und Publizistik in Berlin und Bologna.
Zuletzt erschienen
- Gudrun Knaus, Angela Kailus, Regine Stein, LIDO-Handbuch für die Erfassung und Publikation von Metadaten zu kulturellen Objekten, Band 2: Malerei und Skulptur, hrsg. von Christian Bracht, arthistoricum Verlag, Heidelberg 2022, https://doi.org/10.11588/arthistoricum.1026
- Gudrun Knaus, Leitfaden für digitales Sammlungsmanagement an Kunstmuseen, hrsg. von Christian Bracht, arthistoricum Verlag, Heidelberg 2021, https://doi.org/10.11588/arthistoricum.775
- Gudrun Knaus, Regine Stein, Angela Kailus, LIDO-Handbuch für die Erfassung und Publikation von Metadaten zu kulturellen Objekten, Band 1: Graphik, hrsg. von Christian Bracht, arthistoricum Verlag Heidelberg 2019, https://doi.org/10.11588/arthistoricum.382.544
IV. Perspektive Geschichtswissenschaft
Perspektiven: Forschungsdaten in den Geschichtswissenschaften
Univ.-Prof. Dr. Georg Vogeler (Graz)
Kommentar: Univ.-Prof.in Dr. Tara Andrews (Wien)
Wann? Donnerstag, 19. Januar 2023, 18.30 Uhr
Wo? Kolingasse 14-16, Lehrveranstaltungsraum 5
Zur Sache: Das Thema “Forschungsdaten in den Geschichtswissenschaften” kann man aus sehr verschiedenen Richtung beleuchten, gerade wenn man es praktisch anlegt: Man kann von den Versuchen ausgehen, Archivdaten als digitale Daten verfügbar zu machen, und von den für jedermann z.B. im Angebot von Transkribus zugänglichen Verfahren der automatischen Erkennung von gedruckten und handschriftlichen Texten und ihrer automatische Analyse im Text-Mining ausgehen, die in der Vision einer “Time Machine Europe” münden. Man kann sich die einzelnen Forscher:innen und ihre Notizensammlungen, Excelsheets oder Datenbanken vornehmen, die sie für ihre Fragestellungen erzeugen, und sich fragen, wie sie nachnutzbar werden, und wie sie mit vorhandenen Daten als Linked Data verknüpft werden können, insbesondere wie man ihre Datenmodelle z.B. im Rahmen der Data4History-Initiative miteinander in Verbindung bringen kann. Man kann sich mit Andreas Fickers fragen, wie Forschung mit digitalen Daten als Quellen die Geschichtswissenschaften beeinflussen werden. Schließlich kann man aber auch von einem organisatorischen Standpunkt ausgehen und fragen, wie geschichtswissenschaftliche Forschungsdaten verfügbar gemacht werden sollten: als Teil der Geschichtskultur in Webanwendungen ebenso wie reine Ablage von Forschungsdaten in Datenarchiven ohne Webanwendung. Der Vortrag wird einen möglichen Pfad durch diese Vielfalt an Zugängen vom Bewußtsein ausgehend legen, daß Daten nichts gegebenes, sondern etwas erzeugtes sind (Drucker 2011). Denn ein reflektierter Umgang mit Forschungsdaten in den Geschichtswissenschaften muß ein besonderes Augenmerk auf den Perspektivismus als methodischer Position in der Geschichtswissenschaft legen.
Zur Person: Georg Vogeler studierte Historische Hilfswissenschaften (heute ebenso geläufig als historische Grundwissenschaften) in Freiburg und München. Er promovierte über die spätmittelalterliche Steuerverwaltung in den deutschen Territorien und habilitierte sich mit einer Arbeit über den Gebrauch der Urkunden Kaiser Friedrichs II. bei seinen Zeitgenossen. Seine akademische Karriere führte ihn über die Ludwig-Maximilians-Universität München, die Università del Salento in Lecce, das deutsche Studienzentrum in Venedig und die Universität Wien nach Graz, wo er seit 2016 am Zentrum für Informationsmodellierung Professor für Digital Humanities ist. Seine gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte liegen in der digitalen Edition, der Anwendung von Semantic Web Technologien in den Geisteswissenschaften und der Digitalen Diplomatik. Das Zentrum für Informationsmodellierung ist
bekannt für seine langzeitorientierte DH-Infrastruktur GAMS. Georg Vogeler ist Gründungsmitglied des Institut für Dokumentologie und Editorik (IDE), Mitglied im TimeMachine-Konsortium, im International Center for Archival Reserach (ICARus) und im Data4History-Konsortium. Seit 2022 liegt ein Schwerpunkt seiner Arbeit im ERC Advanced Grant unter dem Titel “From Digital to Distant Diplomatics” (https://didip.eu).
Zuletzt erschienen
- Vogeler, Georg; Pollin, Christopher; Bleier, Roman: „Ich glaube, Fakt ist…“: Der geschichtswissenschaftliche Zugang zum digitalen Edieren. In: Karoline Dominika Döring, Stefan Haas, Mareike König and Jörg Wettlaufer (Hg.): Digital History: Konzepte, Methoden und Kritiken Digitaler Geschichtswissenschaft. Berlin, Boston. De Gruyter Oldenbourg. 2022. 171-190. doi:10.1515/9783110757101-010.
- Vogeler, Georg: The ‘assertive edition’ : On the consequences of digital methods in scholarly editing for historians. In: International Journal of Digital Humanities. 1,2. 2019. 309-322. doi:10.1007/s42803-019-00025-5.
- Vogeler, Georg: Digital Edition of Archival Material – Machine Access to the Content. On the role of Semantic Web technologies in digital scholarly editions. In: Christel Loubet (Hg.): Digitizing Medieval Sources – L’édition en ligne de documents d’archives médiévauxChallenges and Methodologies – Enjeux, méthodologie et défis. Turnhout. Brépols. 2020. 37-56. doi:10.1484/M.ARTEM-EB.5.117327.
Bildrechte: Franz-Johann Morgenbesser 2013, CC BY-SA 2.0