Beitragsbild: Bei der Eidesleistung zum Abschluss der Promotion. V.l.n.r. Patrick Bühler, Jennifer Lahmer-Gebauer, Martin Lengwiler, Christian Reintjes und Marko Demantowsky (oben)
Am 23. Juni 2022 hat an der Universität Basel die mündliche Prüfung im Promotionsverfahren von Jennifer Lahmer-Gebauer (Dortmund) stattgefunden, deren Projekt von mir (Marko Demantowsky) in Basel und in den letzten Monaten von Wien aus betreut worden ist. Weitere Mitglieder des Promotionskomitees und Gutachter waren Prof. Dr. Martin Lengwiler (Universität Basel) und Prof. Dr. Christian Reintjes (Universität Osnabrück). Das Verfahren wurde geleitet von Prof. Dr. Patrick Bühler (Universität Basel). Am Ende der Prüfung konnte das Komitee wie schon bei den vorgängigen Gutachten in völligem Einvernehmen das Prädikat “insigni cum laude” (sehr gut) verleihen.

Der vollständige Titel der Dissertationsschrift lautet: “Beliefs zur Zeitgeschichte. Eine Untersuchung der Überzeugungen von Geschichtslehrpersonen an Gymnasien des Ruhrgebietes in der Berufseinstiegsphase”. Im Mittelpunkt stehen die Grundüberzeugungen (“Beliefs”) junger Lehrpersonen zur Zeitgeschichte allgemein und insbesondere zur Epochenzäsur “1989”. Insofern Geschichtslehrpersonen als wesentliche Akteure in einem Prozess verstanden werden können, der die Geschichtsbilder nachwachsender Generationen wesentlich prägen soll und gewiss auch prägt, haben wir es hier auch mit einem wesentlichen Aspekt von Public History zu tun. Schule ist gewiss ein spezielles Feld von Public History, mit eigenen Reglementen und Traditionen, aber es ist eines.
Jennifer Lahmer-Gebauer hat eine Interviewstudie durchgeführt, die Interviewleitfäden und das weitere forschungsmethodische Setting wurden mit 4 Proband:innen pilotiert und weiterentwickelt, in der Hauptstudie wurden 20 Proband:innen untersucht.
Wenn man den zahlreichen konkreten Ergebnissen näher tritt, wäre meines Erachtens auf die Folgenden insbesondere hinzuweisen:
Das basale doppelte Verständnis von Zeitgeschichte als Epoche (in ihrem Doppelcharakter als dynamisch im Sinne eines Zeitraums der Mitlebenden und einer Epoche, die wie alle anderen durch Zäsuren abgrenzbar ist), lässt sich in der Probandengruppe dominant nachweisen, auch mit der Tendenz zum dynamischen Verständnis, wie es in der Wissenschaft seit einigen Jahren vorherrscht (auch wenn es zur, wie sie Hockerts nennen würde, Gegenwartsvorgeschichte neuerdings wieder eine Periodisierungsarena gibt).
Hochinteressant und in der vorliegenden Studie natürlich noch nicht erschöpfend diskutiert, ist der Umstand, dass der Nationalsozialismus von den Probanden nicht mehr zur Zeitgeschichte gezählt wird. Einerseits ist das (dynamisches Verständnis) folgerichtig, andererseits aber schwindet damit auch das Bewusstsein einer Verantwortungszugehörigkeit, es ist eben nicht mehr die eigene Epoche und die Epoche der Mitlebenden, es ist «ganz lange her». Das wurde m.E. bisher ausführlich nur in Bezug auf die schwindende Zahl überlebt habender Jüdinnen und Juden diskutiert, weniger in Bezug auf die Täterinnen und Täter und ihre Kinder. Hier ergeben sich interessante Interpretationsansätze zu gegenwärtigen Veränderungen der deutschen Geschichtskultur und -politik.
Die geschichts- und allgemeindidaktischen Prinzipien und Theoreme und Hauptargumente, auf die bei der Behandlung zeitgeschichtlicher Themen von den Probanden Bezug genommen wird, jedenfalls in abstrakter Reflexion, sind wissenschaftlich etabliert. Man beherrscht mindestens die Codes. Inwieweit diese abstrakte Legitimationsebene aber auf konkreten Unterricht und ihre Methodik durchschlägt, das ist ein anderes Thema. Der kaum vorhandene Verweis auf den Einsatz von Zeitzeug:innen und auf die Bezugnahme auf aktuelle geschichtspolitische Debatten im Unterricht ist ein Negativindikator in dieser Hinsicht.
Auf dieser Linie des begründeten Zweifels liegt auch dieser Befund: Die Probanden sollten bildliches Quellenmaterial in die Untersuchung einbringen, dass sie für den Unterricht als besonders geeignet betrachten. In absolut dominierender Weise ist dieser Einsatz illustrativ gedacht, es soll in der Einstiegs- und nicht in der unterrichtlichen Erarbeitungsphase didaktisch verwendet werden, es soll mithin und de facto das jeweils eigene dominierende zeitgeschichtliche Narrativ bestärken, nicht hinterfragbar machen oder kognitive Dissonanzen erzeugen.
In Hinsicht auf die dominierenden Erzählmuster zu «1989» lässt sich ebenfalls (wie in Sache geschichtsdidaktischer Referenzen) eine Konventionalität feststellen, es dominieren die Erklärungsmuster «Protestbewegung» und «Fehler im System». Damit kommt es hier zu einer Konkordanz mit den Erklärungsmustern, wie sie auch in der bundesdeutschen Geschichtskultur und -politik dominieren (und die von der Autorin in einem hervorragenden fachwissenschaftlichen Kapitel zum Forschungsstand zu 1989 luzide und übersichtlich herausgearbeitet werden). Und es bleibt das Dutzend weiterer relevanter wissenschaftlicher Erklärungsmuster ausgeblendet, die man eben auch für eine zureichende Interpretation benötigen würde. An dieser Stelle zeigt sich auch ein weiterer Forschungshorizont der bei allfälligen künftigen Projekten Beachtung finden könnte: neben den Mustern der Probanden und den Mustern der Forschung wären auch die Muster der Public History von grossem Interesse (was dann in der mündlichen Prüfung ausführlich thematisiert worden ist).
So konventionell die Probanden grossmehrheitlich geschichtsdidaktisch und fachwissenschaftlich denken, so konventionell strukturieren sie auch ihre Erzählmuster. Es dominiert das romantische-organizistische Muster (nach Hayden White) in seiner hier konkreten Gestalt der Revolutions- und Freiheitserzählung. Ja, Jennifer Lahmer-Gebauer gelingt es tatsächlich, Hayden Whites Geschichtstheorie für die sozialwissenschaftliche Forschung bis in die Mikrostrukturen der Interviewanalyse fruchtbar zu machen. Das hat mich schon fast begeistert.
Hier fehlt jetzt noch vieles Weitere, was man auch noch zu den Ergebnissen der Arbeit sagen müsste. Zur forschungsmethodischen Brillanz habe ich mich hier ohnehin nur en passant geäussert. Meine kritischen Einwände, die es natürlich auch gibt, werden ihren Platz bei der Überarbeitung zur Drucklegung finden. Sehr viel zu machen ist an diesem Text allerdings nicht mehr.
1 thought on ““Beliefs zur Zeitgeschichte”. Erfolgreiche Promotion von Dr. des. Jennifer Lahmer-Gebauer”
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