20. Juni 2022, 18:30-20:00
Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit des Arbeitsbereichs Public History an der Universität Wien mit dem Institut für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien
Universität Wien, Hauptgebäude, Hörsaal 41
Vortragende: Prof. Dr. Thomas Sandkühler (Berlin), Koreferat: Prof. Dr. Wolfgang Mueller (Wien)
Die Diskussion wird moderiert von Prof. Dr. Marko Demantowsky (Wien).
Public History vor und nach dem Krieg: Das “Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst”
Das Deutsch-Russische Museum (DRM) entstand nach der deutschen Vereinigung am Ort eines der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht gewidmeten Museums der sowjetischen Streitkräfte im Berliner Vorort Karlshorst. Es ist weltweit einmalig. Nirgendwo sonst taten sich Sieger und Besiegte in einer gemeinsamen Anstrengung zusammen, um die deutsche Kriegführung gegen die Sowjetunion in Dauer- und Wechselausstellungen zu musealisieren und den Tag der deutschen Kapitulation, 8./9. Mai 1945, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Der Zeitablauf und veränderte politische Rahmenbedingungen haben indes bewirkt, dass auch die ursprüngliche Konzeption in Vergessenheit geraten ist und das Museum zunehmend in die Lage gebracht wurde, kulturelle Nebenaußenpolitik zu betreiben, insbesondere gegenüber der Russischen Föderation. Vor dem russischen Krieg gegen die Ukraine befand sich das Museum in einer ungeklärten, Chancen und Risiken gleichermaßen beinhaltenden Situation. Der Krieg ändert(e) alles. Am Tag nach dem Überfall strich das Museum symbolisch die Adjektive „Deutsch-Russisches“ aus seinem Namen und hisste als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine deren Flagge, wo zuvor die russische, die weißrussische und die ukrainische Flagge gemeinsam geweht hatten. Diese Maßnahme richtete sich nicht gegen das russische Volk oder Russland als historische Bezugsgröße, sondern gegen die Russische Föderation als staatliche Rechtsträgerin des Hauses, die bislang gemeinsam mit der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt wurde. Dieses Modell hat keine Zukunft.
Der wissenschaftliche Beirat des Deutsch-Russischen Museums war bislang ein Spiegelbild seiner multinationalen Agenda, aber auch der zunehmenden Schwierigkeiten, Standards von Geschichtswissenschaft und historischem Lernen gegen sinnstiftende Anfechtungen zu verteidigen. Auch hier markiert der russisch-ukrainische Krieg einen tiefen Einschnitt. Das (ehemalige) DRM ist zu einem exemplarischen Fall für den Gegensatz von kognitiven und politischen Geltungsansprüchen der Public History geworden. Ob es gelingen wird, das Haus für die nachwachsenden Generationen aller am Zweiten Weltkrieg beteiligten Nationen attraktiv zu halten, ist derzeit (März 2022) eine offene Frage.
Zur Person
Thomas Sandkühler, Dr. phil. habil. (*1962), Professor für Geschichtsdidaktik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte mit einer Studie über den Holocaust in Ostpolen und war wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld. Von 1997 bis 1999 leitete er das deutsche Forschungsteam der Unabhängigen Expertenkommission: Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Sandkühler unterrichtete langjährig die Fächer Deutsch und Geschichte an Realschulen und Gymnasien. Seit 2009 lehrt er an der Humboldt-Universität. Zu Sandkühlers Forschungsschwerpunkten gehören der Nationalsozialismus und dessen geschichtskulturelle Repräsentationen, die Geschichte der Geschichtsdidaktik und die Gedenkstättenpädagogik. 2015-2019 war er Vorsitzender des deutschen Fachbandes für Geschichtsdidaktik, 2016-2020 Mitglied des Ausschusses des deutschen Historikerverbandes. Im Februar 2022 wurde Thomas Sandkühler zum Dekan der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität gewählt.
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(C) Thomas Sandkühler 24 February 2022