Worum es geht
Nun ist sie also “im Kasten” unsere Vortrags- und Gesprächsreihe dieses Wintersemesters. Das bewährte Format dieser Veranstaltungen wurde durch das Projekt “Disziplinen in Bewegung” des Fakultätszentrums für transdisziplinäre historisch-kulturwissenschaftliche Studien der Universität Wien bestimmt: dem externen Gastvortrag einer/s herausragenden Expertin/en folgt ein ausführlicher Kommentar einer einschlägig ausgewiesenen Kollegin oder Kollegen aus unserer Universität, dem wiederum folgt ein moderiertes Gespräch der beiden Vortragenden, das sich dann der Zuhörerschaft öffnet.
In diesem Semester haben wir für unsere thematische Reihe das Konzept etwas erweitert und alle vier thematisch eng aufeinander bezogenen Vorträge aufgezeichnet und auf dem YouTube-Kanal der Professur zur Verfügung gestellt.

Unsere Reihe “Historisch-kulturwissenschaftliches Forschungsdatenmanagement transdisziplinär” wurde mitgetragen von PD Dr. Thomas Wallnig (Dekanat der Historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät, Senior Scientist Digital Humanities) und von Prof. Dr. Tara Andrews (Professur für Digital Humanties).
Vorgetragen und kommentiert und also auf unseren Videos mit ihren Beiträgen zu hören und zu sehen sind (in der Reihenfolge ihres Auftretens) Prof.in. Dr. Gertraud Koch (Hamburg), Dr.in Anna Weichselbraun (Wien/Los Angeles), Prof. Dr. Gerhard Lauer (Mainz), Prof. Dr. Stephan Müller (Wien), PD Dr. Thomas Wallnig, Dr.in Gudrun Knaus (Marburg), Raphael Rosenberg (Wien), Mag.a Kathrin Pokorny-Nagel (Wien), Prof. Dr. Georg Vogeler (Graz), Prof.in Dr. Tara Andrews (Wien). Detaillierte biographische Angaben, Literaturempfehlungen und alle weiterführenden Links finden Sie hier: https://publichistoryinvienna.com/guest-lectures/historisch-kulturwissenschaftliches-forschungsdatenmanagement-transdisziplinar/
Eine erste Rückschau
Es klingt wie ein irgendwie randständiges Thema, das wir in der Reihe verfolgen, das ist es aber keineswegs, vielmehr ein zentrales gegenwärtiger und zukünftiger Forschungspraxis und Forschungserkenntnis. Das ist es, recht bedacht, auch schon länger, eigentlich schon von dem Moment an, an dem es kulturelle Praktiken gab, die sich als “Forschung” begreifen lassen.
Die digitale Transformation hat dieses Thema nicht neu geschaffen, sondern nur neu ins Bewusstsein der Wissenschaft gebracht, allein wegen der neuen und effizienteren Formate der Datenorganisation (vom Zettelkasten zur Database), dem exponentiellen Anwachsen der digital-born Primärdaten und der Generierung neuer Datentypen als Ergebnis von kollaborativen, interoperablen digitalen Editionen (Erzeugung von “Forschungsdaten”), um nur drei Faktoren zu nennen, die die Forschungspraxis dazu nötigen, sich selbst radikal zu re-thematisieren.
Die Hypothese, die der Organisation unserer kleinen vierteiligen Vortrags- und Diskussionsreihe zu Grunde lag, ging dahin, dass sich sowohl die neuen Praktiken der wissenschaftsförmigen Organisation der erforschten Empirie als auch die erwähnte Re-Thematisierung der Epistemologie wieder (und wie bis dato stets) disziplinär different ausfalten und abgrenzen. So, wie Forschungsstandards disziplinären Charakter haben (müssen), so wird ihn auch das Forschungsdatenmanagement haben und entwickeln.
Um diese Hypothese zu prüfen, haben wir aus dem großen Fächerspektrum der Historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 3 möglichst differenzversprechende Disziplinen einer doch gleichen Familie ausgewählt (Kunstwissenschaft, Europäische Ethnologie, Geschichtswissenschaften) und gleichsam als Kontrollgruppe noch eine verwandte, aber als Philologie doch klar unterscheidbare Disziplin: die Germanistik. Jeweils haben wir es mit Erfolg unternommen, führende disziplinäre Expertinnen und Experten nach Wien zu holen und Wiener führende disziplinäre Expertinnen und Experten zum detaillierten und gerne kontroversen Kommentar dazu zuladen.
Im Ergebnis lassen sich vielleicht ein paar erste, mehr spontane als systematische Auswertungen formulieren, die gewiss auch weitere über Jahre gesammelte Erfahrungen mit diesem und ähnlichen Themengebieten verarbeiten. Die Rede von Hypothese und Hypothesenprüfung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es hier nicht mit einem Experiment, sondern selbst mit historischer Kultur zu tun haben.
1. Ich persönliche halte in der Rückschau auf die vier Veranstaltungen die Hypothese einer disziplinären Ausfaltung der Praktiken, Standards und Debatten des Forschungsdatenmanagements in selbst so eng verwandten Disziplinen wie den genannten nicht für widerlegt, um es vorsichtig zu sagen. Wenn sich dieser Befund erhärten würde, dann hätte das relevante Rückwirkung auf die Möglichkeit inter- oder gar transdisziplinärer Forschungszusammenarbeit.
2. Auch im Wintersemester 22/23 kamen vielfältige Punkte einer grundlegenden Skepsis auf die Diskussionsagenda, die den Prozess der digitalen Transformation in den historisch-kulturwissenschaftlichen und offenbar auch den philologischen Fächern seit dem Zeitpunkt begleiten, da sich proaktive Akteure und ihre Praktiken nicht mehr ohne Weiteres in hilfswissenschaftliche Randkabinette und -sektionen eskamotieren lassen, sondern wegen des gegebenen Realitätsdrucks in Hinsicht auf die Veränderung der Forschungsgegenstände, aber auch der Politiken der Forschungsförderorganisationen de facto ins Zentrum aller Forschung gerückt sind und rücken, wie sich spätestens bei ehrgeizigen Forschungsförderanträgen unabweisbar und praktisch zeigt. Es gibt in dieser Sache scheinbar wenig Bewegung, weswegen proaktive Forschungsakteure der digitalen Transformation zuweilen ein Gefühl, wenn ich zuspitzen darf, pragmatischer Knechtung entwickeln, einer neuen oder perpetuierten “hilfswissenschaftlichen” Indienststellung. Aus dieser Situation ergeben sich Situationen kontroversen Austausches, in denen es schwierig werden kann, Thementreue aufrechtzuerhalten.
3. Dabei lebt Forschung von Kontroversität und auch die jeweiligen mehr oder weniger weit gediehenen disziplinären Gestaltungen eines digitalen Forschungsdatenmanagements bedürfen unbedingt der ausdauernden informierten Kritik, wie sie auch in unseren Veranstaltungen richtigerweise ausführlich zur Sprache kam. Es gibt aber eine erneuerte Variante des “pyrrhonismus historicus”, die sich auf die kulturellen Auswirkungen der digitalen Transformation bezieht, die ebenso wie der geschichtsbezogene Skeptizismus des 18. Jahrhunderts ihre Argumente diskursiv nicht beweglich hält, die die realitätsgetriebene Ausdifferenzierung und Elaboration von Forschung und Wissenschaft von jeher maximal nur als advocatus diaboli und damit gegen die eigene erklärte Absicht zu fördern vermochte.
4. Proaktive Akteure der digitalen Transformation erwerben Übung und Expertise auch in dieser Hinsicht, so wie auch die frühen Geschichtswissenschaftler und protestantischen Theologen um 1750 im Umgang mit ihren Pyrrhonisten. In gewisser Weise treibt sie das auch voran. In allen vier Veranstaltungen zu beobachten war, dass sich diese Akteure zugleich auch stets als herausragende Vertreterinnen und Vertreter disziplinärer Wissenschaftstheorie präsentierten. Diese letzte Beobachtung hat mich besonders eingenommen, sie machte den Austausch mit den von uns präsentierten Gastrednerinnen und -rednern und ihren Kommentatorinnen und Kommentatoren besonders anregend, lehrreich und, jedenfalls mir, persönlich sehr angenehm. Ich bin dankbar.
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